Eine Bekannte ließ mir eine GEO-Zeitschrift zukommen. Erscheinungsdatum: Dezember 1998.

Der Titel lautet „Die Stimme – Instrument unserer Seele – Wie sie verführt, was sie verrät.“

Ich begann zu lesen und war fasziniert und berührt. Fasziniert von der Länge des Artikels. Er ist 15 Seiten lang. Das ist man heute gar nicht mehr gewohnt. Berührt bin ich vom Inhalt. Denn es wird nicht nur wissenschaftlich erklärt, wie die Stimme funktioniert, sondern auch, wie sie mit uns als Mensch in Verbindung steht. Da ist zuerst der Hinweis darauf, dass wir uns im Grunde erst über „Gesang“ verständigt haben, bevor die Sprache kam. Nur war das kein Singen nach Noten. Aber es waren Töne, Klänge, die wir erzeugt haben, um uns zu verständigen.

Heute nutze ich in meinen Kursen dieses „intuitive Tönen“ als Mittel, die eigene Stimme wieder zu finden.

Erzählt wird in dem Artikel auch die Geschichte eines Debüts der bulgarischen Sopranistin Ljuba Welitsch an der New Yorker Met 1949. Nach deren Gesangsvortrag soll es minutenlang still gewesen sein, eine Frau wurde ohnmächtig, ein Bischof musste davon überzeugt werden, dass das noch Kunst gewesen sei, was er gehört hatte und keine Orgie. Offensichtlich hatte diese Sängerin die Zuhörer mit ihrer Stimme aus dem emotionalen Gleichgewicht gebracht.

Wenn wir singen oder Gesang hören, dann sind jene Teile unseres Gehirns aktiv, in denen sich unser Gefühlsleben abspielt. Auch wenn wir sprechen, lässt unsere Stimme oft mehr durch-klingen, als unsere Worte sagen. Und manchmal lässt der Klang einer Stimme den Inhalt des Gesagten vergessen.

An einem Tag im Februar 1987 begannen beim Südwestfunk die Telefone Sturm zu klingeln. Der Anlass: Eine neue Sprecherin hatte die täglichen Programmhits vorgelesen. Die Redaktionsassistentin Susanne Müller löste im Sendegebiet unglaubliche Reaktionen aus. Ganze Belegschaften legten ihre Arbeit nieder, nur um den von ihr gesprochenen Verkehrshinweisen lauschen zu können. In den folgenden Wochen wurde der Südwestfunk in „Süßvoicefunk“ umgetauft. Susannes Müllers Stimme galt lange als die erotischste Stimme Deutschlands.

Unsere Stimme ist in der Tat ein Instrument unserer Seele. Warum gehen wir also so lieblos damit um? Das fragt sich dieser Artikel und ich frage mich das in meiner Arbeit schon lange:

Wir pflegen unseren Körper und unser Gesicht mit Hingabe – und lassen unser wichtigstes Ausdrucksmittel zum Reibeisen verkommen. Wir kämpfen gegen Speckpolster, machen Diäten – aber wenn wir chronisch heiser sind oder notorisch überhört werden, halten wir das für Schicksal.

Dabei ist es gar nicht so schwer, seine Stimme kennenzulernen und einen gesunden Umgang mit ihr zu finden. Wir müssen allerdings den Mut haben, in uns hinein zu horchen und zu fühlen. Auch müssen wir den Mut haben, uns selber zuzuhören.

Gleichzeitig, bei allem, was die Stimme zeigt, sollten wir mit der Interpretation einer Stimme vorsichtig sein. Nur weil jemand eine tiefe Stimme hat, die in unserem Bauch schwingt und dadurch angenehm ist, heißt das nicht, dass wir einen angenehmen Menschen vor uns haben. Die Zwischenklänge in der Tiefe machen da einen Unterschied aus. Genau so schwierig ist das Vorurteil gegenüber hohen Frauenstimmen. Selbst viele Frauen sagen, dass sie ihre eigene hohe Stimme nicht ertragen können und versuchen deshalb tiefer zu sprechen. Leider führt das langfristig dazu, dass die Stimme überlastet wird, wenn sie nicht in ihrer Wohlfühltage („Indifferenzlage“) sprechen kann.

Das Urteil, dass wir hier fällen, hat kulturelle Ursachen.

Wer also aufgrund einer Stimme einen Schluss auf die Gefühlslage des Sprechers schließen möchte, muss Klang, Resonanz, Modulationsbreite, Dezibel, Obertöne und vieles mehr wahrnehmen.

Das Verrückte: Wir können das und zwar meistens unbewusst. Wenn unsere Mutter anruft und „Hallo“ sagt, wissen wir sofort, ob es ihr gut geht oder schlecht.

Wir sind alle Virtuosen, beschreibt der Artikel. Wir sind Meister in der Kunst des Mitteilens von Emotionen und in der Kunst des Zuhörens. Wir können über das bloße Gesagte hinaus und endlich vielfältige Nuancen von Irritation, Ironie, Zärtlichkeit, Verachtung, Resignation oder Spott wahrnehmen oder auch vermitteln – allein durch Variationen in der Klangfarbe, Artikulation, Intonation, Sprechtempo und Lautstärke unserer Stimme. Wir können demselben Satz zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen geben.

Tragischerweise wissen wir nichts davon. Wir könnten unsere Mitmenschen viel genauer durchschauen – wenn wir sorgfältiger zuhören würden. Und wir könnten mit unserer eigenen Stimme oft Welten bewegen – wenn wir uns ihrer Wirkung stärker bewußt wären.

„Die menschliche Stimme ist das nuancenreichste und ausdrucksstärkste Kommunikationsorgan, das die Natur je hervorgebracht hat“ sagt Professor Günter Tembrock in dem Artikel.

Dazu kann ich nur sagen: Ja, genau so ist es.

Deshalb mein Aufruf: Beschäftige Dich mit Deiner Stimme. Finde heraus, wie sie funktioniert, was sie kann und dann nutze sie. Deine Stimme ist eine Bereicherung. Auch wenn Du das vielleicht nicht glauben kannst.

Ich jedenfalls glaube es.

Herzlichst

Sonja

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